Traditionen in Mecklenburg-Vorpommern

Wir haben uns auf den vorangegangenen Seiten etwas ausführlicher der Porträt-Silhouette als besonderem Sujet des Scherenschnitts gewidmet, weil diese uns auch nach Mecklenburg-Vorpommern führt:
Im 1945 durch den Schlossbrand verlorengegangenen Landesmuseum von Mecklenburg-Strelitz soll sich eine ganze Kollektion von Porträt-Silhouetten des Strelitzer Hofstaates, immerhin 79 Stück, ältere Dokumentationen nennen sogar 84, befunden haben. Geschnitten wurden sie um 1824 vom Hofmaler Wilhelm Unger (1775-1855). Unger hatte sich als Miniaturmaler, Porträtist und Lehrer an der Kunstakademie Kassel einen Namen gemacht. Er unterrichtete hier u.a. die junge Prinzessin Marie von Hessen-Kassel, die im Juli 1817 den Großherzog Georg von Mecklenburg-Strelitz heiratete. Sie bat ihren Lehrer, mit ihr nach Neustrelitz zu gehen. Der Künstler befand sich zum Zeitpunkt in einer persönlichen und künstlerischen Krise und nahm das Angebot an - "zu vieljähriger Reue" wie seine Frau Dorothea später vermerkte. Ungers Gehalt war mehr als bescheiden, sicher den begrenzten finanziellen Möglichkeiten des Strelitzer Hofes geschuldet. Dass die Abbilder des Hofstaates nach der Methode "à la Silhouette" entstanden und nicht als Miniatur, schließlich war diese ja das eigentliche Metiers des Meisters, ist wohl Ausdruck dieses Mangels. Unger hat sich damit beholfen, dass er die Scherenschnitte weiß oder farbig bemalte, wodurch sie lebendiger wirkten. Jedem Scherenschnitt ist der Name des Abgebildeten beigefügt. Glücklicherweise ließ der Urenkel des Malers, Prof. Eckehard Unger (1885-1966) in den 1930er Jahren von allen auffindbaren Arbeiten des Künstlers Fotografien anfertigen. Durch eine Hinweis in den "Mecklenburgischen Monatsheften" des Jahrgangs 1927 und durch die Veröffentlichung von Fotokopien einiger dieser Porträt-Silhouetten in der Zeitschrift "Carolinum" blieb zumindest eine Spur dieser interessanten künstlerischen Arbeit erhalten. (6)
Oberhofmeisterin
  Auch am Schweriner Hof gab es einen Liebhaber von Scherenschnitten, allerdings mit etwas finanzkräftigerem Hintergrund. Schließlich baute der Herzog Christian Ludwig II (1683-1756) den Grundstock einer Kunstsammlung auf, die heute einen herausragenden Besitz des Staatlichen Museums in Schwerin darstellt. Der Herzog liebte besonders Gemälde der niederländischen Meister. Offensichtlich inspirierte ihn diese Vorliebe zu eigenem künstlerischem Tun. Im Kupferstichkabinett des Schweriner Museums werden, eingebettet in einem alten Folianten mit den Initialen des Herzogs, faszinierende Weißschnitte aufbewahrt, fast alle im Format A4 oder größer, die dem Herzog als Urheber zugesprochen werden. Ob er das aber tatsächlich war? Mit Weißschnitten brillierten im 17. bis zum Anfang des 18. Jahrhundert besonders Künstlerinnen in Holland, die teilweise noch namentlich bekannt sind. Sie schufen in bewundernswerter Schnitttechnik Abbilder von Landschaften, Blumen, Vögeln, Wappen, Vasen und ähnlichen Gegenständen sowie Porträts von Fürsten und Gelehrten. Es wäre durchaus vorstellbar, dass die grazilen Schnitte im Schweriner Kupferstichkabinett von einer Person aus diesem künstlerischen Umfeld in Holland stammen und der Sammelleidenschaft des Herzogs anheim fielen. Das ist aber nicht die einzige Rarität der Scherenschnittsammlung in Schwerin. Auch hier sind Mitglieder der Schweriner fürstlichen Familie, des Hofstaates und bekannte bürgerliche Schweriner in Porträt-Silhouetten verewigt. Die schwarzen Abbilder der Porträtierten entstanden um 1800. Ihre Schöpfer allerdings sind in der Anonymität versunken.

Jacob Runge

Die beiden Porträt-Silhouetten seiner Brüder Jakob und David führen uns zu einem Scherenschneider, der als Maler und Grafiker nationale Bedeutung erlangte. Obwohl ihm in seinem kurzen Leben nicht vergönnt war, ein umfangreiches Werk zu schaffen, zählt er heute zu den Meistern der deutschen romantischen Malerei. Es ist der 1777 in Wolgast geborenen Philipp Otto Runge (1777-1810). Inzwischen sind seine Scherenschnitte auf mehreren Kunstausstellungen gezeigt worden, wobei dort weniger die Porträt-Silhouetten, sondern hauptsächlich seine artengetreuen Pflanzenschnitte vertreten waren. "Gegenüber den Gemälden, Zeichnungen und Radierungen weisen nun die Scherenschnitte Runges eine erstaunliche Spontaneität und naive Ausdruckskraft auf. Sie erwecken den Eindruck, als sei der Künstler völlig unbefangen seiner raschen Eingebung gefolgt, so treffsicher und formvollendet sind die Blumensilhouetten aus weißem Papier geschnitten. ...Suggestiv, so als seien sie eben erst aus dem Nebel des Unbewussten aufgetaucht, schweben die lichterfüllten, reinweißen Formen vor der dunklen Folie des Bildgrundes".

Auch dem 1840 in Greifswald geborenen Paul Konewka (1840-1871) war nur eine kurze Lebens- und Schaffenszeit beschieden. Seine künstlerischen Interessen wurden im Elternhaus beachtet. Er lernte beim Berliner Bildhauer Friedrich Drake (1805-1882) mit Klöpfel und Meißel umgehen, wandte sich aber bald dem Pinsel zu und wurde Malschüler bei Adolph Menzel (1815-1905). Doch seine eigentlichen künstlerischen Erfolge schuf er mit der Scherenschnitt-Schere. Seine Umwelt und die Gestalten seiner reichen Fantasie hielt er seit Kindertagen im Scherenschnittbild fest. Die Schere soll er virtuos beherrscht haben, wie überhaupt die Erinnerungen seiner Zeitgenossen für einen charismatischen jungen Mann sprechen.

David Runge

Runge Blumen
Konewka blieb nicht nur beim Papierschnitt. Um seine Bilder schneller in Druckverfahren umsetzen und in hohe Auflagen verbreiten zu können, ließ er seine Scherenschnitte in Holz übertragen. Das ist bei seinem bekanntesten Kinderbuch - "Der schwarze Peter" - bereits der Fall. Es erschien 1869 und wurde zu einem der Höhepunkte der deutschen Kinderliteratur des 19. Jahrhundert. Johannes Trojans (1837-1915) gefällige Reime haben daran einen nicht unerheblichen Anteil. [Der talentierte Dichter redigierte übrigens viel Jahre lang die beliebte satirische Zeitung "Kladderadatsch" und verstarb 1915 in Warnemünde.]
Konewka schuf außerdem Scherenschnittbilder von Shakespeare-Gestalten ("Fallstaff und seine Gesellen"; der "Sommernachtstraum") und sehr viele Bilder für Zeitungen und Zeitschriften; in seinen letzten Lebensjahren aber nur noch als getuschte Silhouetten.
Schwarzer Peter



Künstlerisches Vorbild für Konewka war der am 8.4.1821 in Stralsund geborene Karl Fröhlich (1821-1898). In ärmliche Verhältnisse hineingeboren, sein Vater war ein zugereister Schuhmacher aus Berlin, musste Karl als ältester Sohn der kinderreichen Familie schon frühzeitig als Laufbursche zum Familienunterhalt beitragen. Obwohl der Vater mit der Familie bereits 1829 nach Berlin zurück ging, waren die Kindertage in Stralsund für Karl Fröhlich prägend. Hier hatte er den einzigen Schulunterricht erhalten - bei Mamsell Jäkel im Johannishof. Nach Stralsund kehrte er in späteren Jahren immer wieder besuchsweise zurück. In Berlin erlernte Karl Fröhlich das Buchdruckerhandwerk, nahm Zeichenunterricht, übte sich weiter im Scherenschnitt und schrieb Gedichte. Nach siebenjähriger Wanderschaft, u.a. befreundete er sich dabei mit dem Düsseldorfer Scherenschnittkünstler Wilhelm Müller (1804-1865), lebte er von 1847 an wieder in Berlin. Für eine Beschäftigung mit "Feder und Schere" blieben ihm - wie er selbst vermerkte - nur die freien Stunden. Als Dichter kam er über das Mittelmaß nicht hinaus, für seine fantasievollen, filigranen Schnitte allerdings wurde ihm ungeteilte Bewunderung zuteil, die bis heute anhält. Er belebte das Schwarzbild durch Innenkonturen, in Ritztechnik oder mit der Nadel ausgeführt. "Fröhlich war als Künstler noch ganz "Biedermeier", obwohl seine Schaffensperiode nicht mehr in jenen Kunstepoche fiel. Mit zwinkerndem Auge führte er seinen Mitmenschen ihre Schwächen vor, schnitt märchenhaft harmonische Mensch-Tier-Szenen und natürliche Bilder, die die glückliche bürgerliche Familie zeigen. Er erzählt in seinen Schnitten kleine Geschichten oder zeigt den flüchtigen Augenblick, und er war ungeheuer produktiv. 1852 wurde sein Buch "Blumen am Weg" herausgegeben, in dem er als erster eigene Gedichte mit Scherenschnitten illustriert hatte." Bis zu seinem Tod erschien eine Reihe weiterer Kinderbücher. Er starb am 18.12.1898 in Berlin.

Karl Fröhlich, Mutter mit Kind gratulierend, um 1880
Johanna Beckmann Karl Fröhlichs anspruchsvolles Werk wurde zum Vorbild der nächsten Scherenschneider-Generation. Die Künstlerin Johanna Beckmann (1868-1941) bezog sich ausdrücklich auf ihn. Wie Fröhlich fand sie in Berlin ihr berufliches Betätigungsfeld. Sie wurde am 3.5.1868 in Brüssow (Uckermark) geboren. Im mecklenburgischen Stargard (heute Burg Stargard) verbrachte sie ihre Kinder- und Jugendzeit. Im April 1886 nahm sie eine Berufsausbildung in Berlin auf. Wir finden sie als Schülerin an drei bekannten Kunstschulen, und schließlich legte sie 1889 an der Zeichenschule des Lette-Vereins das Examen als Zeichenlehrerin ab. Nur kurze Zeit arbeitet sie als Zeichenlehrerin in Stettin und Berlin. Bereits im November 1891 begann Johanna Beckmanns Arbeitsleben als Gestalterin und "Silhouetten-Malerin" an der Königlichen Porzellan-Manufaktur (KPM) in Berlin. Hier verbrachte sie über zwanzig anstrengende, aber auch erfolgreiche berufliche Jahre. Schon als Kind hatte sie sich dem Scherenschnitt gewidmet und entwickelte in dieser Technik eine solche Meisterschaft, dass sich namhafte Berliner Galeristen für ihre Scherenschnittbilder interessierten. 1895/96 stellte sie beispielsweise im renommierten Kunstsalon von Eduard Schulte aus. Weitere Ausstellungen folgten, u.a. in Hamburg, Dresden, Karlsruhe. Auch mit Mustervorlagen für kunstgewerbliche Heimarbeiten, veröffentlicht in Zeitschriften und Fachbüchern macht die Künstlerin auf sich aufmerksam. Sie arbeitete für mehrere Kunst-, Familien- und Jugendzeitschriften, u.a. für "Westermanns Monatshefte", "Über Land und Meer" und für die Fachzeitschrift "Die Gartenwelt". Während ihrer schöpferischsten Jahre konnte sich Johanna Beckmann großer Beliebtheit erfreuen. Viele zollten ihrem Werk Anerkennung. Obwohl sie seit 1886 fast ununterbrochen in Berlin lebte, ist aus ihr nie eine wirkliche Großstädterin geworden. Nichts war vergleichbar mit Burg Stargard, ihrer Zuflucht im Mecklenburgischen. Hier erwartete sie ihr treuestes und dankbarstes Publikum - die Kinder. Aber sie wendete sich in ihren 30 Büchern, die seit 1905 in rascher Folge erschienen, auch an erwachsenen Leser. Ihre lebens- und naturphilosophischen Botschaften kleidetet sie in Gedichte oder kurze Prosatexte und illustrierte sie mit ihren Scherenschnitten. Außerdem erwies sie sich als einfühlsame Illustratorin der Gedichten von Goethe und Storm, Erzählungen Eichendorffs sowie von Märchen der Brüder Grimm und H. C. Andersen. Ihre letzten Lebensjahre allerdings waren von materieller Not und vom Vergessensein gezeichnet. Johanna Beckmann verstarb am 8. Februar 1941 in Berlin. Auf dem städtischen Friedhof in Burg Stargard wurde sie am 13. Februar beigesetzt. Hier ist ihre Grabstätte noch heute vorhanden.

Zur gleichen Zeit wirkte auch der Tiermaler Otto Wiedemann (1869-1957) als Scherenschneider in Berlin. Wie Johanna Beckmann schuf er einen Kriegsbilderbogen für die Aktion der Kronprinzessin Ceclie "Helft meiner Kriegskinderspende". Wiedemann stellt dort in Silhouetten die kaiserliche Familie vor. Die Bildnisse hatte er sicher schon auf Lager, denn er soll als "kaiserlicher Hof-Scherenschneider" in hohem Ansehen gestanden haben. Erfolg hatte er auch mit seinen Tierdarstellungen und mit Porträt- Silhouetten von Musikern und Künstlern seiner Zeit. Doch er illustrierte auch Bücher, beispielsweise von dem heute fast vergessenen plattdeutschen Dichter Wilhelm Henschel (1874-1938). Beide stammten aus Vorpommern; Wiedemann wurde in Greifswald geboren, Henschel in Treptow a.Toll. (heute Altentreptow). Obwohl beide längere Zeit in Berlin lebten, blieben sie ihren Geburtsorten eng verbunden.
Anna Pawlova


Über die begabte Scherenschnitt-Künstlerin Marie Margarete Behrens (1883-1958) ist nur wenig zu erfahren. Im "Allgemeinen Künstler-Lexikon" wird sie als "deutsche Malerin, Scherenschnitt- und Bilderbuch-Künstlerin" vorgestellt, geboren am 16.8.1883 in Rostock, verstorben 1958 in Schwerin. Ihr künstlerische Besonderheit bestand in der Verwendung von Farben, wobei sie ihre schwarzen Schnitte mit farbigen Papieren unterlegt. In "Kinderlust", einem "Bilderbuch zum Selbstanfertigen" (erschienen um 1914 in Mainz), arbeitete sie "mit starkfarbigen, kräftig konturierten Flächen in einem naiven Spätjugendstil". Weitere ihrer Kinderbücher erschienen später im Verlag von Johannes Herrmann in Zwickau. Für den Verlag illustrierte sie u.a. Verse und Fabeln von Wilhelm Hey (1789-1854). In den 1920er Jahren fanden der Scherenschnitt und die Porträt-Silhouette noch einmal eine besondere öffentliche Resonanz. So sind Arbeiten vom Zeichenlehrer und Barlach- Freund Friedrich Schult (1889-1978) bekannt geworden. Am künstlerischen Beginn Tisa von der Schulenburgs (1903-2001) standen ebenfalls Versuche mit schwarzem Papier und Schere.
Mutter Sonne


Mit farbigen Papieren bzw. mit Kolorierungen in ihren Scherenschnittbildern arbeitete auch die Rostockerin Käthe Reine (1894-1976). Die familiären Wurzeln der Künstlerin reichen bis ins Rheinland. Käthe Reine wurde am 20.12.1894 in Halver (Westfalen) geboren. Bereits ein Jahr später zog die Familie nach Rostock, da sich für den Vater, Bierbrauer und Unternehmer, hier eine interessante berufliche Zukunft bot. Käthe Reine besuchte eine private Töchterschule in Rostock. Ihre musikalischen und zeichnerischen Interessen wurden beachtet und gefördert. Den ersten, auf eine Berufsausbildung gerichteten Zeichenunterricht erhielt sie bei der Rostocker Malerin Fanny Bernhard, was sie in die Lage versetzte, sich 1914 mit Erfolg an der Kunstgewerbeschule Düsseldorf bewerben zu können. 1917 kehrt sie nach Rostock zurück und entwickelte im Künstlerkreis um Fanny Bernhard ihre Vorliebe für mecklenburgische Landschaftsmotive und Stadtansichten von Rostock. Später wählte sie gern Stillleben und Blumenarrangements als weitere Motive ihre attraktiven Ölbilder.
Seit 1917 veröffentlichte Käthe Reine Scherenschnitte, zuerst in Familienzeitschriften, bald auch größere Arbeiten, mit denen sie sich seit 1918 an verschiedenen Kunstausstellungen beteiligte. 1925/26 erschienen im Volksvereinsverlag Mönchengladbach zwei anspruchsvolle Märchenausgaben mit Scherenschnitten von Käthe Reine, und zwar zu "Grimms Märchen" und "Andersens Märchen" (Repro-Ausgabe 2005 im Verlag Steffen in Friedland / Meckl.). Mit diesen Arbeiten stellte sich die Künstlerin in die Reihe der erfolgreichen Märchenillustratoren auf dem Gebiet des Scherenschnitts. Während des Zweiten Weltkrieges versuchte Käthe Reine mit einem "Kunstpostkarten-Verlag" das tägliche Brot zu sichern. Sie verarbeitete ihre Scherenschnitte zu Kinder-, Glückwunsch- oder Festtagskarten, zu Tischkarten und ähnlichen Druckerzeugnissen.
Nach Kriegsende 1945 schloss sich die Künstlerin der Sektion Bildende Kunst des "Kulturbundes zur demokratischen Erneuerung Deutschlands" an. Zumindest in der Anfangszeit fand die "namhafte Künstlerin" hier Gleichgesinnte. Sie trat nur noch selten in der Öffentlichkeit auf. Käthe Reine starb am 24. 2. 1976 in Rostock.



Käthe Reine, Der Kuss




Käthe Reine, Andersens Märchen