Die Silhouette
[Auszug aus: Johanna Beckmann "Die Silhouette", veröffentlicht in der Zeitschrift "Über Land und Meer", Jahrgang 1910, Nr. 12, S. 326-327]

"...Die Silhouette stammt laut Chronik (das Gefühl sagt anders) als Modeartikel direkt aus Paris (Zeit 1764) und feierte ihre erste Blüte um die Goethezeit. Lavater sammelte in seinem Buch "Essais sur la physionomie" die Schattenrisse seiner Zeitgenossen, und weil die Silhouette "Mode" war, wurde viel über sie geredet, man sagte, aus der Art des Profils kann man den Charakter des Menschen erkennen ; jeder der auf sich hielt, besaß sein Schattenbild oder verehrte es seinen Freunden. Uns sind dank dieses Brauchs die Bilder manches bedeutenden Mannes erhalten...
Die Zeit der Freiheitskriege und die Burschenschaftszeit bedienten sich ebenfalls der Schattenkunst, um Freundschaft schwarz auf weiß zu beweisen. Dann kam die Erfindung der Photographie. Sie trat das Erbe der scheinbar ersterbenden Porträtsilhouette an; die schwarze Kunst ward zu den Toten geworfen.
Legationsrath Matthei
Wichtel Nun aber pflegt die Kulturgeschichte ab und zu (wenn ihr nichts Neues einfällt) begrabene Stile wieder auszugraben, und seit Louis seize, Empire und Biedermeier "neu belebt" sind, wie man das nennt, marschiert als kleiner Epigone und Archaist auch die Porträtsilhouette treuherzig mit...
Ich meine im Grunde nicht die "Silhouette", ich meine das Schattenbild (dessen der Begriff "a`la Silhouette" ein kleiner Teil ist).
Das Schattenbild hat Meister gehabt, von denen zu reden sich lohnt...
Es ist nämlich nicht so einfach, wie der Laie glaubt. Der sagt: "Konewka guckte gar nicht zu, wenn er schnitt, und Fröhlich auch nicht." Und wenn ich indessen an meiner Ranke die allerletzte mechanische Arbeit tue und sehe den Sprechenden verwundert an, dann setzt er hinzu: "Und Sie sehen ja auch nicht hin."
Er weiß nicht, wie das Urbild jener Ranke vielleicht am Waldrand gebebt hat im Wind, und wie ich nichts mehr fühlte, als nur das Einssein mit dem Werk.
Und die Pflanzen sind immerhin noch diejenigen lebenden Gebilde der Natur, die uns am meisten Geduld entgegenbringen - aber hat man ein lebendes "richtiges" Wichtelmännchen von etwa drei Jahren oder weniger sich gegenüberstehen, so schaut man hin und gibt acht - so gewiss, wie Wichtels Mutter acht geben würde, wenn der Kleine in Gefahr wäre, unters Automobil zu geraten.
Und doch geschieht unser Tun in unendlich einfacher Weise, darum, weil die Idee selbst unsre Wege uns zeigt - nicht weit - so wie wenn Nebel ist. Man hat keine Perspektive, das lässt sie nicht zu, aber greifbar sieht man als Schatten dicht vor sich das, was man sucht - oder findet, ohne zu suchen.
Zum Beispiel, man geht über Land; da steht ein kleiner Junge, hat beide Hände in den Taschen und rührt sich nicht. Man sagt ihm in seiner Sprache um was es sich handelt, und setzt ihm ein Käppchen auf. Still steht er ohnedies (ich setze voraus, dass er Mecklenburger ist). In fünf Minuten ist das doppelte Bildchen da, eines für ihn, eins für mich - er lächelt, die anderen kommen dazu, ich arbeite weiter. Eine Stunde später sind so viele kleine schwarze Leute da, dass Wichtelmännchen sein Diner festsetzen kann. Und was noch sonst dazugehört, die Pilze, Eicheln, Spatzen, Blumen und Ranken, das findet sich alles von selbst (ich meine in Mecklenburg)...
Die "ganz kleinen Fische" holen die Wichtel persönlich aus dem Bach, die Rübchen stehen auf dem Feld, die Kartoffeln buddeln von selbst - und der Abend naht, eh man gedacht hat. Dann erscheinen allmählich die Sternlein, und wenn man so spät wandert und schaut von den Hügeln hernieder und es ist ganz dunkel, so sieht man die Bilder vor sich, die werden wollen, und man hat zu tun für den andern Tag.
Die schwarze Kunst verlangt unsre ganze Kraft...
Und wie entstehen größere Gebilde? Genau wie in der großen Kunst, in warmer ganzer Hingabe und Selbstprüfung, nicht immer auf einem Wurf, doch auch sie werden in gewissem Sinne von selbst, weil das, was wir meinen, so schön vor unserer Seele steht, dass wir den Wunsch haben, es also wiederzugeben, den ewig unerreichten Wunsch zum Ideal."